Mythos Lügenpresse: Ein Kampfbegriff mit langer Geschichte

von Friederike Lorenz (Gastbeitrag) | 11.04.2022

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Rund ausgeschnittenes Foto von Friedrike Lorenz

„Lügenpresse, Lügenpresse!!!" schreien wütende Demonstrant*innen gegen die Corona-Maßnahmen im Winter 2021 vor den Türen des ZDF-Hauptstadtstudios in Berlin. „Staatsfunk“, „Systempresse“ oder „Mainstream-Medien“ sind andere Ausdrücke für dieselbe Überzeugung: Die Medien seien gesteuert und verbreiteten bewusst die Unwahrheit, um die Bevölkerung zu täuschen.

Politisch gesteuerte Medien? Das glaubt ein signifikanter Teil der Bevölkerung

Das glauben nicht wenige: Eine repräsentative Studie zeigt: 39 Prozent aller Bundesbürger*innen waren der Ansicht, dass am Vorwurf der „Lügenpresse“ „etwas dran" sei; in Westdeutschland hielten das 37, in Ostdeutschland 44 Prozent für wahrscheinlich.[1] Zu ähnlichen Ergebnissen kam eine Studie von 2020: Knapp 40 Prozent der Befragten waren überzeugt, die politischen Machthaber*innen machten der Presse Vorgaben für die Berichterstattung.[2]

Der Vorwurf ist absurd, jedoch nicht neu – nur die Identitäten der vermeintlichen Strippenzieher hinter den Medien ändern sich. Der Mythos von der Presse aber, die im Dienst dubioser Mächte gegen das Volk agiert, ist ein echter Klassiker, der immer wieder aus der Mottenkiste geholt wird. Belegen lässt er sich das erste Mal 1835, als die Wiener Zeitung einen französischen Abgeordneten zitierte, der die Einschränkung der Pressefreiheit in Frankreich forderte: „Nur durch Unterdrückung der Lügenpresse kann der wahren Presse aufgeholfen werden.“ Von Anfang an handelt es sich um einen Kampfbegriff, der meist von Antisemit*innen verwendet wurde: Liberalismus und Demokratie galten vielen ihrer Gegner als jüdische Erfindungen. Hitlers Propagandaminister Joseph Goebbels diffamierte später jede der Nazi-Ideologie entgegenstehende Zeitung als „vom Weltjudentum gesteuerte Lügenpresse“. Ein Monopol auf den Begriff hat die Rechte allerdings nicht: Auch in der DDR-Fernsehsendung Der schwarze Kanal wetterte Moderator Karl-Eduard von Schnitzler häufig gegen die „kapitalistische Lügenpresse" der Bundesrepublik.

In antisemitischer Tradition gegen die Demokratie

In Deutschland machte ab 2014 vor allem Pegida Begriffe wie „Lügenpresse“ und „Staatsmedien“ wieder populär. Die Verantwortlichen sprachen lange Zeit nicht einmal mit Vertreter*innen der Presse, von denen sie sich diffamiert fühlten. Ihre „Lügenpresse, halt die Fresse“-Rufe fanden offensichtlich auch in den USA Gehör: Auf Twitter machten 2016 Trump-Wähler mit dem Hashtag #lugenpresse ihrer Wut über die angeblich gelenkten „Mainstream-Medien" Luft. In dasselbe Horn blasen Medien der extremen Rechten wie das Monatsmagazin Compact oder der Blog Politically Incorrect, der sogar in einer eigenen Rubrik „Lügenpresse“ angebliche Manipulationen der „Altmedien“ (der Begriff wird von Rechten synonym mit "Mainstream-Medien" gebraucht) aufdecken will. Für die rechtskonservative Wochenzeitung Junge Freiheit sind diese Publikationen „Versuche auf Graswurzelniveau, um sich das Land zurückzuholen“. Aber von wem eigentlich?

An eine gleichgeschaltete „Staatspresse“ glauben vor allem die, die ihre Ansichten in den Medien nicht repräsentiert sehen. Wenn die „Mainstream-Medien“ ein vielfältiges, buntes Deutschland (z. B. mit fluiden Geschlechtsidentitäten, Frauen in Führungspositionen und nichtweißen Deutschen) als normal präsentieren, kommt die rechtskonservative Toleranz schnell an ihre Grenzen. Und auch unliebsame Wahrheiten wollen viele Medienkonsument*innen oft gar nicht erst hören – ob es um den Klimawandel geht oder die Corona-Krise.

Die redaktionelle Gesellschaft: Umfassende Medienbildung schon in der Schule

Die Jury der Sprachkritischen Aktion kürte „Lügenpresse“ schon 2015 zum Unwort des Jahres. In der Begründung hieß es: „Eine solche pauschale Verurteilung verhindert fundierte Medienkritik und leistet somit einen Beitrag zur Gefährdung der für die Demokratie so wichtigen Pressefreiheit, deren akute Bedrohung durch Extremismus gerade in diesen Tagen unübersehbar geworden ist." Tatsächlich war der Vorwurf gleichgeschalteter Medien in der Geschichte der BRD selten so laut zu hören und zugleich nie so absurd wie jetzt: Während früher das Fernsehen drei Programme zeigte, ist die Medienlandschaft heute sehr vielfältig, und Meinungsmonopolen und allgemeinen Deutungshoheiten steht zudem das Internet entgegen.

Von einer Meinungsdiktatur, in der die „Lügenpresse“ das Volk hinters Licht führen könnte, waren wir nie weiter entfernt – auch durch die sozialen Medien. Ein zweischneidiges Schwert, denn über genau die lässt sich natürlich auch das Misstrauen der Presse gegenüber weiter schüren, verbreiten sich „Fake News“ in Sekundenschnelle. Der Tübinger Medienwissenschaftler Bernhard Pörksen wirbt darum für die Idee einer „redaktionellen Gesellschaft“, in die Prinzipien des seriösen Journalismus schon in der Schule als grundlegende Medienkompetenz für alle vermittelt werden. In der Wochenzeitung „Die Zeit“ beschreibt er sein Ideal: „Man würde in Zeiten global zirkulierender Fake-News und anonymer Hass-Attacken die Kunst der öffentlichen Rede einüben, Quellen einschätzen lernen, die Qualität von Argumenten im Unterschied zu Propaganda studieren. All dies getrieben von der Einsicht, dass die öffentliche Welt als der geistige Lebensraum einer liberalen Demokratie vor verbaler Gewalt, vor Manipulation und Desinformation geschützt werden muss.“[3]

Quellen

[1] Repräsentativbefragung „Relevanz und Glaubwürdigkeit der Medien", 2016, durchgeführt vom Institut für Demoskopie Allensbach, im Auftrag des Verbandes Deutscher Zeitschriftenverleger (VDZ). https://www.mvfp.de/nachricht/artikel/allensbach-umfrage-zeitschriften-und-zeitungen-deutlich-glaubwuerdiger-als-soziale-netzwerke/, abgerufen 5.4.2022

[2] Studie „Glaubwürdigkeit der Medien“, 2018, durchgeführt von infratest dimap, im Auftrag des Westdeutschen Rundsfunks (WDR). https://www1.wdr.de/unternehmen/der-wdr/unternehmen/glaubwuerdigkeitsstudie-2018-100.pdf, abgerufen 5.4.2022

[3] Pörksen, Bernhard,„Alle müssen Journalisten sein“,„Die Zeit“, 20.2.2018, https://www.zeit.de/2018/08/umgang-medien-fake-news-propaganda-journalismus/komplettansicht, abgerufen 5.4.2022
 

Über die Autorin

Friederike Lorenz arbeitet als freie TV-Journalistin und Regisseurin von TV-Dokumentationen. Sie ist ausgebildete Wissenschaftsjournalistin und war von 2002 bis 2008 für das Wissenschaftsmagazin des Deutsche Welle TV in Berlin tätig. Seit 2009 dreht sie als freie Regisseurin und Produzentin TV-Dokumentationen, oft zum Themenkomplex Natur und Umwelt. Ihre Filme laufen im Programm der öffentlich-rechtlichen Fernsehsender, zum Beispiel im ZDF, beim NDR und bei arte.

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